Bildnis Lina


2023, Lasurtechnik auf Leinw. auf Holz, 86 x 57 cm
Von geheimnisvollen Blicken und von Tante Coby


Lina, Wismar, Portrait von Manfred W. Jürgens, Maler Lina, Wismar, Portrait von Manfred W. Jürgens, Maler

Es klingelt. Zwei Mädchen stehen vor unserer Haustür, die eine sieben und die andere acht Jahre alt. Mit einer Kreditkarte in der Hand. 'Ihr habt doch immer viel Besuch, kennt ihr den hier, dessen Name auf der Karte steht? Wir fanden die vor unserem Haus‘, so die eine. 'Ja, er war gestern bei uns zu Gast', entgegnet überrascht meine Frau.

Der Blick der einen mit den dunklen lockigen Haaren durchleuchtet mich seltsam still, so als möchte sie mir sagen 'Du, ich weiß alles über dich‘.

Von nun an winkte sie leicht schüchtern, wenn sie an meinem Atelierfenster vorbei ging.

Mit dem Vater der anderen planten wir vier Jahre nach dem Fund der Karte ein Nachbarschaftstreffen. Wir wollten der unterkühlten Stimmung in unserer Strasse entgehen und nahmen uns viel vor. Heute Abend verteilen wir alle 30 Einladungen.

Auf dem umgrünten Hof des ersten Hauses saßen drei gelassen in der Abendsonne. Die Eltern genossen entspannt ihr erstes Glas Wein an diesem lauschigen Sommerabend. Uns überraschte eine seltsam wohltuende Vertrautheit. ’Setzt Euch, welch schöne Idee.’ Es gab Rotwein.

Da war es wieder, das Mädchen mit dem leisen Scannerblick. Nach einer halben Stunde fragte ich 'Was hast Du heute so gemacht?‘’ Komm, ich zeige dir meine Kaninchen. Ich bin Lina.’ Behutsam nahm sie eins nach dem anderen aus dem Stall, um ihre kleinen Lieblinge zu präsentieren. Die Zwerge kuschelten sich vertraut an. Linas Augen leuchteten. Der Kaninchenstall besaß zwei Etagen. Eine Treppe führte ins kleine Obergeschoß. Es duftete nach Heu. Erinnerungen erwachten und liessen mich an die Kaninchen meiner eigenen Kindheit im mecklenburgischen Schönhof denken.

An diesem Abend war es die einzige Einladung, die mein Freund Chris und ich verteilten. Meine Frau traute uns trunklüsternen Gestalten nichts mehr zu. So übernahmen Kinder am Folgetag freudig das verlässliche Verteilen der Werbung. Jetzt waren sie die Einladenden.

Es ist seltsam, aber ich grübelte wochenlang darüber nach, wie ich das im Garten der Nachbarn Erlebte umsetzen könnte. Da war ein stilles Wesen, das noch Kind, gleich Mädchen und bald Frau ist.

Irgendwann fragte ich. Auch die Eltern stimmten dem Portrait zu.

'Gut, ich komm denn mal nach dem Unterricht zu dir', so die jetzt Zwölfjährige. Ede, ein Schulfreund, sass bei mir im Atelier und wollte mit mir nach 50 Jahren Schulschuss ein Klassentreffen besprechen. Plötzlich stand Lina im Raum. In ihren zwei Körben saßen Zwergkaninchen. Sie schmunzelte stolz. 'Such dir eins aus.‘ Ede lachte vor sich hin 'Das ist hier bei dir wie im Zirkus!'

Bei Scheinwerferlicht machte ich wie gewohnt knapp 800 Fotoskizzen mit unterschiedlichen Zwergen in ihren Armen. Es war alles so unkompliziert und ich dachte, sie versteht mich, kann die erträumte Komposition, die ich seit Tagen vor mir hertrage, nachvollziehen.

Natürlich erschien mir Wochen später beim Zeichnen an der neuen Tafel Dürer und sein Feldhase. Aus dem Regal zog ich einen der Bildbände über den Meister. Da fiel mir auf: Lina und Albrecht Dürer haben am gleichen Tag Geburtstag. Er wurde nur 539 Jahre vor ihr geboren. Wäre sie ihm auch aufgefallen?

Als ich Lina den Entwurf meines Bildes zeigte, meinte sie ganz beglückt 'Oh, wie schön, Tante Coby ist wieder da, das ist ja wie Auferstehung!‘ Ich verstand nichts. 'Wer?' 'Na, Tante Coby, so heißt das Kaninchen, und es wurde vor zwei Tagen vom Marder totgebissen. Nun ist sie wieder da, wie schön!'

Gelegentlich saß Lina Modell, erzählte offen Geschichten aus ihrer Welt. 'Weisst Du, dass ich seit meinem ersten Lebensjahr verlobt bin?' ‚Was?' 'Ja, ein Zweijähriger wollte mich damals heiraten, ich erinnere mich tatsächlich an dieses Ereignis, aber meine Eltern empfahlen zunächst eine Verlobung.' 'Und heute, siehst Du ihn gelegentlich?‘ 'Er geht jetzt in die gleiche Schule wie ich, aber die Liebe fürs Leben ist es nicht.‘ 'Wovon träumst Du?‘ Sie atmet schwer durch. 'Ein Tierarzt, das wäre schön!‘

Für mich ist es immer wieder unfassbar, wenn mich Kinder an ihrem Leben teilhaben lassen. Dadurch werde ich selbst wieder jung. Ich wollte nie erwachsen sein.

Zurück zum Anfang dieser Geschichte. Das andere Mädchen das vor fünf Jahren vor unserer Haustür stand, heißt Ella. Sie war kürzlich zu Besuch. 'Weisst Du Manfred, das Thema deiner nächsten Ausstellung lautet ja Auf Augenhöhe. Den Geschwistern von Tante Coby könntest du eine Freude machen, also eine kleine Treppe bauen. Dann geht ihr mit dem fertigen Portrait ins Hasengehege, stellt die Treppe vor das Bild und die Hinterbliebenen können ihre verstorbene Schwester wie im Himmel auf Augenhöhe wieder sehen.'

Auch von Ella gibt es ein Portrait. Es entstand bereits 2021. Aber das ist eine andere Geschichte.

© MWJ, Wismar, 08.10.2023

Nachtrag. Nachbarin Renate, die Linas Bildgeschichte im Netz gelesen hatte, stand gestern unaufgefordert mit Brettern vor unserer Haustür.
Die sind für die Hasen-Treppe.

Es kommt noch besser. Mein Kumpel Stoff schrieb mir heute, dass er die Karnickeltreppe bauen möchte. Es ist erstaunlich, wie sich Geschichten verselbstständigen.
Das Schönste im Leben ist das, was man für andere tut.

Unglaublich: Die Treppe ist fertig. Sie wurde heute geliefert. Ella und Lina sagen 'Danke Stoff!'.
Fortsetzung folgt!

Aktualisiert am 13.11.2023


Salon Jürss Wismar

Zur
Bildgeschichte
mit Ella



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Malerei
von
MWJ



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