Bildnis Ella


Lasurtechnik auf Holz, 86 x 57 cm, 2021
Vom Aufbruch in die Zukunft und von einem neunjährigen Mädchen aus der Nachbarschaft


Ella Naab, Manfred W. Jürgens Wismar, Bildnis Portrait, Kinderbildnis Ella Naab, Manfred W. Jürgens Wismar, Bildnis Portrait, Kinderbildnis

Zum Glück hatte ich einst Maler gelernt, ein Jahrzehnt auf Baustellen verbracht und vieles von anderen Gewerken angenommen. So konnte ich bei der Renovierung unseres neu erworbenen Hauses handwerklich sehr viel selbst machen. Die Pandemie belastete mich nicht so sehr wie anfänglich befürchtet. Es gab viel zu tun. Der Traum von einer eigenen Atelier-Galerie wurde dank Corona früher wahr als urspünglich geplant. In den vergangenen Jahren hatte ich gelernt, mir selbst zu genügen.

Ende Mai 2020 machte ich erstmals bei der Aktion KunstOffen in Mecklenburg-Vorpommern mit. Noch nie hatten meine Frau und ich an einem Wochenende mehr als 300 Interessierte zu Hause zu Besuch. Neugierige aller Altersschichten.

Seit Jahren träumte ich von einem Pendant zu meinem Bildnis 'Bosse im Wald‘Bosse im Wald. Ich suchte unbewusst nach einem Mädchen mit offenem Blick. Und plötzlich stand sie in der Tür, die neunjährige Ella. Nach zwei Sekunden war es klar: Sie ist da! Das ist sie, gab ich meiner Frau mit einer heimlichen Handbewegung zu verstehen. Sie nickte schmunzelnd, erahnte mein neues Portrait.

Im Nebenraum hörte ich Ella zu ihrem Vater sagen: 'Papa, Papa, guck mal, die Schublade ist nicht richtig zu'. Sie stand vor meinem 'Stillleben mit Wassermelone‘Stillleben mit Wassermelone. 'Wie malt man das, damit es so aussieht?' Nun war ich mir absolut sicher, das ist sie und stellte die Frage: 'Darf ich Dich malen?' 'Mich?' 'Ja, Dich'. 'Und was ist das Thema?' 'Du, Dein Aufbruch in die Zukunft'.

Viele einst erträumte Bildideen in puncto Mädchenportrait wurden verworfen. Ihre über dem Pulli getragene Armbanduhr gefiel mir als Metapher für Erblühen und Vergänglichkeit. Der Hintergrund sollte etwas mit unserem Heimatort Wismar zu tun haben. Somit wählte ich einen Blick vom Mühlenteich auf die hinter Bäumen versteckte Stadt.

Auf Ellas Seite wuchs die Neugierde, als ich mit der Tafel begann. Oft winkte sie nach der Schule vor meinem Atelierfenster, ich öffnete ‘Willst Du gucken?’ ‘Ja!‘ So erzählten wir uns vor dem entstehenden Portrait unsere Geschichten. Die entstandene Vertrautheit empfand ich als Reichtum.

‘Meine Mutter hat den gleichen Vornamen wie Du, Ella.‘ ‘Lebt sie noch?‘ ‘Nein, sie starb als ich 16 war.‘

‘Morgen früh haben wir in Mathe eine Prüfung, bereits um halb acht. Du musst an mich denken, ja?‘ Und tatsächlich dachte ich am Folgemorgen an sie. Wie schade, dass das Portrait eines Tages fertig sein wird.

Ella schenkte mir eine Tüte mit einem Apfel. Die Tüte hatte sie bemalt. Heute hängt sie eingerahmt gegenüber dem Portrait in der Atelier-Galerie.

Halloween. Vor der Haustür standen zwei großartig verkleidete Kinder. ‘Was macht Ihr beruflich?‘ ‘Ich bin der Tod‘, sagte ein Junge. ‘Boah und Du?‘ ‘Ich bin ein Dämon.‘ Die Mädchenstimme forderte ‘Süßes, sonst gibt's Saures‘. ‘Erkennst Du mich?‘ ‘Ja, aber nur an der Stimme. Du bist meine jüngste Freundin Ella.‘ Der Tod staunte. Fröhlich zogen beide weiter.

Wochen später besuchte mich Ella mit einem gleichaltrigen Freund. Auch er sollte das Bild in seiner Entstehung sehen. ‘Manfred, das ist Jan.‘ Aus reiner Vermutung sagte ich: ‘Du warst schon mal hier zu Halloween.‘ ‘Ja! Genau. Weißt Du, was Ella erzählt hat: Sie sagt, sie hat jetzt einen alten, ganz ganz alten Freund in der Nachbarschaft. Der malt auch. Er sieht aus wie ein Braunbär, aber ein bißchen auch wie ein Eichhörnchen.‘

Tage vergingen. Es klingelte. Ella stand mit den Worten in der Tür: ‘Also, auf Euch Eichhörnchen ist auch kein Verlass mehr.‘ In ihrer ausgestreckten Hand lag eine Nussschale. ‘Wenn Du nochmal bei uns auf dem Hof bist und dort ohne unser Wissen rumknabberst, so räum beim nächsten mal bitte danach auf!‘ Wir kicherten gemeinsam und setzten uns an die Staffelei. Staunend sah ich blonde Haare und schwarze Wimpern.

Ellas Mutter fuhr mit ihr in den Kurzurlaub. Von dort aus schickte sie mir eine Postkarte, natürlich mit einem Eichhörnchen. Es ist echt zum Piepen! Irgendwie bringt Ella mir meine Kindheit zurück. Welch große Freude.

Immer wieder scannt mein Blick ihr Wesen. Wie erzähl ich im Bild das, was ich hier erlebe? Welche Physiognomie sollte dem Portrait letztendlich innewohnen?

Außerdem: ‘Ella, welche Uhrzeit könnte die Uhr an deinem Handgelenk haben?‘ ‘15:23 Uhr, so die prompte Antwort.‘ ‘Warum denn diese Zeit?‘ ‘Na, Du hast doch mal gesagt: Aufbruch in die Zukunft. Um 15:23 Uhr wurde ich geboren.‘
‘Kannst Du mir Deine Uhr zum Malen borgen?‘ ‘Ja, aber nur einen Tag!‘

Wir hörten unseren Nachbarn Thomas seine Harley-Davidson anwerfen. ‘Ella, komm, wir gucken uns die mal an!‘. Sie bewunderte mit großen Augen die Maschine und fragte schüchtern: ‘Darf ich mich da mal raufsetzen?‘Ella Naab, Manfred W. Jürgens Wismar Ihr Vater kam zufällig staunend dazu: ‘Papa, Papa, wenn ich groß bin, so die Neunjahrige, werde ich auch eine Harley haben. Dann führen wir Akrobatik auf! Vorn fahren die Rocker mit Pistolen und dahinter zeigen wir Mädchen während der Fahrt turnend unsere Kunststücke.‘

Zurück ins Atelier. ‘Irgendwie ist das schön. Das gefällt mir. Warum malst Du meinen Pulli in diesem Rot?‘ ‘Das Ocker passte inhaltlich nicht so gut.‘ Sofort war in ihr ein Wunsch geboren. Zu ihrem 10. Geburtstag schenkte ihr ihr Vater das Kleidungsstück im Farbton des gemalten Bildes.

Als die Tafel fertig war fotografierte ich sie vor dem Bildnis. Ella Naab, Manfred W. Jürgens WismarIhre Mutter berichtete mir, dass Ella tanzend und voller Glück nach Hause kam.

Ruth Rupp besuchte uns und ich bat Ella dazu. Zwischen beiden liegen 85 Jahre Altersunterschied. Es ist mir immer wieder eine große Freude, wenn sich die Portraitierten kennenlernen. Beide waren voneinander begeistert.Ella Naab, Ruth Rupp, Manfred W. Jürgens Wismar

Ella besuchte mich wieder im Atelier, diesmal fordernd. ‘Dass du ständig am Portrait gemalt hast, das verstehe ich, da Portraitierte auf die Fertigstellung warten. Aber jetzt, bei deinem Seerosenbild, geht es doch nur um Blätter. Die warten doch nicht. Du musst auch mal raus gehen und nicht nur in der Bude rumhocken und malen. Komm wir ziehen um den Block.‘ So schlenderte sie mit mir in Richtung Spielplatz. Das letzte mal saß ich vor 55 Jahren auf einer Schaukel. Welch seltsames Erlebnis.

‘Mama hat nur ganz wenig geholfen.‘ Zu meinem 65. Geburtstag buk sie mir einen Kuchen und bastelte für mich eine Papierfledermaus im Origami-Stil. Auch diese hängt nun gegenüber ihrem Portrait.

Auf der Staffelei entstand mein Seerosenbild. Seerose, Manfred W. Jürgens WismarDurch Ella traten mir verschüttete Erlebnisse aus der Kindheit ganz deutlich und detailiert ins Bewusstsein. Einst wuchs ich am Waldrand fern des kleinen Dorfes namens Schönhof auf. Wald und Ortsteil Wendorf existieren nicht mehr. Dort gab es einen kleinen Teich mit ein paar Seerosen. Stundenlang saß ich als Drei- und Vierjähriger dort, beobachte Insekten und hungrige Teichfrösche. Ohne Ella wären diese nicht ins Bild eingeflossen.

Danke Ella!

© MWJ, Wismar, 18.01.2022