Wie ein kleines verstört bockiges Kind sitze ich in einer Kabine der Sport-Abteilung bei Karstadt in Wismar. Selbst das Klicken metallischer Kleiderbügel auf eiserne Wandhaken in den angrenzenden Kabinen bewirkt in mir spontane Schmerzen, die vom Hirn aus durch den gesamten Körper zucken. Meine Nerven liegen blank. Die zunehmende Geräuschempfindlichkeit zerfrisst mein Nervenkostüm. LongCOVID hat mich fest im Griff.
Dank des Tipps einer Dresdener Freundin werde ich bald im Süden in einem Krankenhaus für Naturheilweisen knapp zwei Wochen zu Gast sein. Der Münchener Wunschliste folgend kleidet mich meine Frau sportlich neu ein. Der Kabinenspiegel feiert: Hah, mit diesem Outfit fährst du morgen ins Trainingslager des FC Bayern.
Vor mehr als 17 Monaten wollte ich mir die vierte Corona-Impfung beim Hausarzt abholen. Dieser meinte, dass ich recht fad aussähe und empfahl einen Test. Er wollte nicht auf eine vermutete Infektion impfen. Ich ging nach Hause, schloss im Gästezimmer das Fenster und fiel nach hinten in Ohnmacht. Meine Frau, dachte, dass ich wie gewohnt im Atelier male und fand mich fünf Stunden später mit extremen Lähmungserscheinungen bleich auf dem Gästebett vor. Es folgten die fürchterlichsten Schmerzen meines Lebens. Die nächsten Tage waren die Corona-Hölle. So nah war ich dem Sensenmann bisher nicht begegnet.
Wochen später begannen Gedächtnisstörungen. Anfänglich glaubte mein soziales Umfeld, dass ich scherze. Ganze Jahrzehnte fehlten plötzlich in meiner Erinnerung. Das Schreiben von bestimmten Buchstaben des Alphabets war mir nicht mehr möglich. Großteile des Wissens über Malerei, Fotografie, Musik, Geschichte, Film und Theater waren völlig verschwunden. Es ist ein fürchterliches Gefühl, wenn einem der Verstand abhanden kommt.
Ein unerwartetes Nebengeräusch im Gespräch reichte aus, so dass alles zuvor Gesagte gelöscht war und ich kurz vor dem Nervenzusammenbruch stand.
Es folgten Konzentrationsschwächen und anhaltende Schwindelgefühle. Seitdem bin ich permanent an meiner nervlichen Grenze, immer kurz vor dem Umkippen. Ich traue mich nicht Fahrrad zu fahren, gehe nicht mehr allein in die Stadt, da ich befürchte, vor ein fahrendes Auto zu fallen. Namen und Gesichter von Freunden entfallen mir weiterhin. Das ist echt bitter.
Im vergangenem Jahr schaffte ich es nur, ein einziges Bild zu malen. Es ist das Bildnis unser 13-jährigen Nachbarin ❯ Lina
, die ich sehr schätze. Beim Modellsitzen für das Portrait erzählte ich ihr an der Staffelei, dass ich in letzter Zeit ein weißes undurchblutetes Dreieck um den Mund im Spiegel sehe und beim Berühren des Kopfes oftmals nichts mehr spüre. Oh, das muss ich Papi erzählen, der ist doch Arzt. Dieser empfahl Blutverdünner und schon war zumindest dieses Problem verschwunden. Die restlichen halten in unterschiedlichen Variationen ohne erkennbare Ursachen an.
Der Hausarzt meinte 'LongCOVID, das kann zwei, drei Jahre andauern und die Wissenschaft benötigt ein Jahrzehnt Vorlauf für geeignete Heilungsmethoden. Finden Sie sich damit ab!‘ 'Ja prima, ich bin Maler und arbeitsunfähig, verstehen Sie, arbeitsunfähig!' 'Aber Sie sind doch Rentner’, war seine Antwort.
Am Wismarer Krankenhaus konnten nach mehreren Aufenthalten und recht breitgefächerten Untersuchungen keine organischen Schädigungen festgestellt werden.
Nun gehen wir eigene Wege, haben viel ausprobiert. In Schwerin besuche ich seit kurzem eine Kältezelle. Es ist wie auf dem Raumschiff Enterprise. Als hätte Jean-Luc Picard eine Telefonzelle umfunktioniert. Dort herrschen -85°C. Fünf Minuten verbringe ich zweimal wöchentlich dort in Unterwäsche tanzend mit Fusselpuschen, Handschuhen und Kopfhörer auf den Ohren. Zum Glück sieht mich außer meiner Frau, die das auch mitmacht, keiner. Aber es hilft und mein Kopf ist für wenige Stunden etwas klarer. Ein selten gewordenes Gefühl.
Wir waren auch auf Poel. Eine 92-jährige Dame mit erstaunlich jungem und sehr wachem Blick versuchte mir besprechend zu helfen. Es wäre großartig, wenn ich nach so vielen Monaten endlich wieder malen könnte. Ja, ich sehne mich nach meiner Vor-Corona-Vitalität zurück.
Das ewige Kribbeln auf dem Kopf ist unerträglich. Seit acht Wochen fallen mir die Haare aus. Jede Woche fehlt ein weiterer halber Zentimeter auf der Stirn. Ohne meinen Galgenhumor hätte ich mich längst schon genussvoll erschossen.
Vor Galeriebesuchern versuche ich meine Erkrankung weitgehend zu vertuschen. Ich bin es leid zu jammern. Alle zwei Stunden muss ich schlafen, um den Tag zu überstehen. Der einst so angenehm agile Geist in mir ist erloschen und antriebslos. Mir fehlt die Kraft fürs Alltägliche. Seit einem Dreivierteljahr war ich nicht mehr an der Staffelei.
Im Kalender steht 1. Mai. Die Schulmedizin weiß nicht weiter. Nun geht es für zwei Wochen ins Krankenhaus nach München. Also mache ich alles mit, um wieder der zu werden, der ich vor Corona war. Ich möchte endlich wieder ins Atelier und arbeiten.
Am Tag vor der Abreise schenkt mir Nachbarin Nicole ein gerahmtes Foto von unserer letzten Silvesterparty mit Freunden im Atelier. 'Damit du weißt, für wen du dich reparieren läßt.'' Welch ein Glück, dass Bärbel alles vorbereitet hat und mich nach München begleitet. Allein hätte ich es in meinen Zustand nie geschafft. Akustisch war die Zugfahrt trotz Außenschall löschender Kopfhörer fürchterlich. Auch für Bärbel ist es nicht leicht geworden.
Text © MWJ · Mai 2024
❯ Mein 1. Aufenthalt im Krankenhaus für Naturheilweisen | München | 5/2024 |
❯ Mein 2. Aufenthalt im Krankenhaus für Naturheilweisen | München | 12/2024 |