Cliff Klutzer Winkel


Lasurtechnik auf Holz, 74 x 200 cm, 2022
Melancholie ist ein zu höchst erstrebenswerter Zustand


Ostsee, Ostseeküste, Klützer Winkel, Steinbeck, Manfred W. Jürgens Ostsee, Ostseeküste, Klützer Winkel, Steinbeck, Manfred W. Jürgens

'Wer das Rauschen nicht mag, soll nicht am Meer leben', sagt Kaptain Schickedanz in einem ❯ DEFA-Dokumentarfilm über ihn aus dem Jahr 1984.

Einsame Küstenlandschaften laden zum Dösen ein. Dösen ist für mich eine speziell nordische Art des in sich selbst Spazierengehens.

Steilufer, rauhe Winde und wogende Wassermassen bringen wortkarge Nordlichter zum inneren Leuchten und, man mag es kaum glauben, sogar zum heimlichen Philosophieren.

Schon als Kind saß ich, wenn auch viel zu selten, gern einsam am Binnenmeer namens Ostsee und träumte mich weg, weit hinaus ins Geheimnisvolle hinter dem Horizont.

Es ist immer wieder erholsam und zugleich auch ein Spazieren durch die Vergänglichkeit. Wanderungen am Meer sind wie gute Musik, man fühlt sich beim Genießen oft recht klein und schwebend glücklich.

Meeresrauschen trägt uns Menschen in die Unendlichkeit und sagt uns 'Die Zeit vergeht nicht, wir vergehen'. Gleiches erfährt auch das Gestein auf seinem Weg an der Küste. Da liegen Steine wie schlafende Urwesen, gelegentlich mit geheimnisvoll geschliffenen Mimen.

Die Weichsel-Eiszeit schob sie vor 12.000 Jahren aus Schweden an unsere Küste. Das Meer rieb viele von ihnen zu Sand und einige blieben nordisch trotzig als Findlinge liegen. Einige nennen sich Schwedensteine. Wie geht es einem schwedischen Stein, der Jahrtausende vom Wasser umspült wird? Sicherlich ist es ihm völlig egal, an welchem Strand er sich sonnt und badet. Haupsache Sand, salzige Luft und lachende Möwen.

Abbruchkanten offenbaren ockerleuchtend Erdpigmente in voller Schönheit. Uferschwalben bohren Nester in steile, sandig leuchtende Kanten. Wind weht Grassamen zwischen bald herab stürzende Bäume. Sie blicken in den Abgrund auf ihre vertrockneten Verwandten, die sich über Felsiges beugen. Das ewig hungrige Meer holt sie bei der nächsten Sturmflut und formt sie zu geschliffenen, hellen Holzskeletten. Verwundungen, Narben, Einschlüsse, gelegentlich auch mal ein Bernstein. Unaufhörliche illegale Sedimenttransporte zwischen Staaten, so ist das Meer. Es kennt keine Grenzen.

Da ein Totenkopf. Seit wann schleift ihn die See, oder legte sie ihn gerade frei?

Zwei gehen im Bild mit einem Hund spazieren. Es sind meine Frau und unsere Freundin Katharina mit leuchtend rotem Schal sowie deren Hündin Peppina. Küstenwanderungen eignen sich nicht nur für Träumereien, sondern auch für melancholische Rückblicke. Eisige Kälte umweht die Spaziergänger.

Das Meer, dessen Allmacht, erinnert mich seit Jahrzehnten an einen Menschen, den es uns nahm. Wir nannten ihn Kirsche. Mit Ihm fuhr ich einst als ❯ VollmatrosenlehrlingManfred W. Jürgens, Vollmatrosenlehrling, Vollmatrosen Lehrling, MS Georg Büchner, Rolf Hilbert Wismar auf der MS Georg Büchner unter Kaptain Schickedanz zur See. Gemeinsam mit unserem Kumpel Stoff träumten wir davon, nach der Lehre auf dem Öltanker MS Böhlen zu fahren. Eine Augenkrankheit nahm mir zum Ende der Lehre das Seefahrtsbuch. Stoff seine Geschichte führte ebenso zum Verlassen der Reederei. Welch ein Glück aus heutiger Sicht.

14. Oktober 1976: Ein Navigationsfehler, der Tanker schlug leck und sank später vor der französischen Küste von Crozon. Vom Tod unseres Freundes erfuhr ich durch die Fernsehnachrichten.

Auf dem Weg zur Verschrottung sank später auch unser einstiges Ausbildungsschiff vor dem Kap von Rozewie am 30. Mai 2013.

Das Meer. Unentwegt nimmt es, oft auch unverzeihlich, aber es gibt und verschenkt auch Melancholie, Traumwelten, Urzeitliches, Entspannung und Fernweh. In jedem Küsten- und Meereszauber lebt natürlich auch die Gefahr. Vielleicht fischt gerade deshalb die Schönheit des Maroden daraus ihren Reiz. Im Blick ins unentwegt wühlende Unendliche des Meeres liegt eine seltsame, nicht enden wollende Faszination.

Nun wohne ich seit fünf Jahren erneut am südlichsten Punkt der Ostsee, in Wismar. Sicherlich wird dieses Meer mich noch oft zu neuen Bildern provozieren.

❯ Christian RedlChristian Redl, Manfred W. Jürgens würde dazu sagen 'Melancholie ist ein zu höchst erstrebenswerter Zustand'.

© MWJ, Wismar, 13.07.2022